http://www.incadat.com/ ref.: HC/E/AT 572 [11/07/1990; Oberster Gerichtshof (Austria); Superior Appellate Court] 1Ob614/90 Oberster Gerichtshof (Autriche), 11/07/1990

Kopf:

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspr�sidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofr�te des Obersten Gerichtshofes Dr. Hofmann, Dr. Schlosser, Dr. Graf und Dr. Schiemer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. N.W., geboren am 11. J�nner 1983, infolge Revisionsrekurses des Vaters G.W., Linz, Waldeggstra�e 92, vertreten durch Dr. Josef Lindlbauer, Rechtsanwalt in Enns, gegen den Beschlu� des Landesgerichtes Linz als Rekursgerichtes vom 22. Mai 1990, GZ 18 R 256/90-7, womit der Beschlu� des Bezirksgerichtes Linz vom 11. April 1990, GZ 1 P 38/90-2, best�tigt wurde, folgenden Beschlu� gefa�t:

Begr�ndung:

Die Minderj�hrige ist die Tochter des Gerhard und der G.W. aus deren dem Bande nach noch aufrechten Ehe. Am 16. 1. 1990 verreiste die Mutter mit dem Kind zu ihrem Bruder R.B. in die Vereinigten Staaten. Dem hinterlassenen Abschiedsbrief ist die genaue Anschrift des k�nftigen Wohnortes der Mutter und des Kindes nicht zu entnehmen. Seither bestehen keinerlei Kontakte zwischen dem Vater und dem Kinde. Am 29. 3. 1990 stellte der Vater den Antrag, das Erstgericht m�ge im Sinne des �bereinkommens �ber die zivilrechtlichen Aspekte internationaler ["http://www.ris.bka.gv.at/taweb-cgi/"] Kindesentf�hrung an der Ermittlung des Aufenthaltsortes der ehelichen Mutter sowie an der R�ckholung seines Kindes mitwirken und ihm die Gewahrsame bzw. die Obsorge seine Tochter betreffend �bertragen. Die Mutter sei auf Grund ihrer psychische Probleme nicht in der Lage, die Obsorge zum Wohl seiner Tochter zu versehen. Zufolge mehrerer Vergewaltigungen seit ihrer Kindheit unterliege sie starken Stimmungsschwankungen, sei kontaktarm und lebe in g�nzlicher Isoliertheit. Sie sei auch au�erstande gewesen, den Haushalt ordnungsgem�� zu f�hren und das Kind entsprechend zu betreuen. So habe sie die Minderj�hrige oft tagelang allein gelassen; vor ihrer Abreise in die Vereinigten Staaten von Amerika sei sie bereits dreimal aus der ehelichen Wohnung ausgezogen. Das Erstgericht wies die Antr�ge des Vaters auf Mitwirkung an der Ermittlung des Aufenthaltsortes der ehelichen Mutter sowie an der R�ckholung der Minderj�hrigen nach �sterreich bzw. auf �bertragung der Gewahrsame betreffend die Minderj�hrige zur�ck, den Antrag auf �bertragung der Obsorge stellte es dem Vater zur Verbesserung durch Bekanntgabe der Anschrift der Mutter bzw. der Minderj�hrigen zur�ck. Die Verbringung ihrer Tochter in die Vereinigten Staaten sei nicht widerrechtlich erfolgt, weil die Mutter - ebenso wie der Vater - im Sinne des � 144 ABGB nach wie vor berechtigt sei, das Kind zu pflegen und zu erziehen. Mangels Widerrechtlichkeit l�gen aber weder die Voraussetzungen nach den genannten �bereinkommen noch gem�� � 146 b ABGB vor. Zur Erledigung des Antrages auf �bertragung der Obsorge m�sse der Vater die genaue Anschrift der Mutter bekanntgeben, damit dieser und der Minderj�hrigen rechtliches Geh�r gew�hrt werden k�nne. Das Rekursgericht best�tigte diesen Beschlu� und sprach aus, da� der ordentliche Revisionsrekurs zul�ssig sei. Ziel des genannten �bereinkommens, dem sowohl �sterreich wie auch die Vereinigten Staaten beigetreten seien, sei der Schutz der Kinder vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zur�ckhaltens. Widerrechtlich sei das Verbringen oder Zur�ckhalten eines Kindes, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt werde, das einer Person allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zustehe, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gew�hnlichen Aufenthalt hatte, und dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens allein oder gemeinsam tats�chlich ausge�bt wurde oder ausge�bt worden w�re, falls das Verbringen nicht stattgefunden h�tte. Das Sorgerecht k�nne insbesondere auch kraft Gesetzes bestehen. Wohl sei die Ausreise der Mutter mit der Tochter ohne Einvernehmen mit dem Vater in Verletzung des Sorgerechtes geschehen, doch d�rfe nicht �bersehen werden, da� die Eltern das Kind zu pflegen und zu erziehen, sein Verm�gen zu verwalten und und es zu vertreten h�tten und dabei einvernehmlich vorgehen sollten. Die einvernehmliche Aus�bung bedeute, da� sich die Eltern bei der Willensbildung einig sein m��ten. Es m�sse aber nicht in jedem Einzelfall eine Einigung herbeigef�hrt werden, meist werde es gen�gen, wenn sich die Eltern �ber die Grunds�tze der Aus�bung einig seien. Anders liege der Fall, wenn der Aufenthaltsort des Kindes in einen anderen Kontinent verlegt werden solle. Habe ein Elternteil das Einvernehmen mit dem Partner nicht hergestellt, verletze er damit das Recht des anderen Elternteiles. Die Verlegung des Aufenthaltsortes in die Vereinigten Staaten bed�rfe daher ohne Zweifel des Einvernehmens mit dem anderen Elternteil. Die Mutter habe somit das Sorgerecht des Vaters verletzt. Das bedeute aber noch nicht, da� dadurch allein schon das Obsorgerecht vom 16. 1. 1990 an auf ihn �bergegangen sei. Eine solche Rechtsverletzung k�nne allerdings zum Anla� eines Verfahrens nach den �� 176 und 177 Abs.2 ABGB genommen werden. Solange aber eine solche Entscheidung noch nicht herbeigef�hrt sei, st�nden dem Vater die Rechte der �� 144 und 146 b ABGB nur gemeinsam mit der Mutter zu. Solange die Obsorge beiden Eltern gemeinsam zukomme, sei der Verbleib des Kindes bei einem Elternteil nicht rechtswidrig, durch welche Ereignisse auch immer es zu dem einen oder anderen Elternteil gekommen sei.

Eine Kindesentf�hrung sei deshalb zwischen gemeinsam obsorgeberechtigten Eltern begrifflich ausgeschlossen. Die Stattgebung des Antrages des Vaters h�tte zur Folge, da� das Kind der nach wie vor obsorgeberechtigten Mutter abgenommen und dem noch nicht allein obsorgeberechtigten Vater �bergeben werden m��te. Damit w�rde das Gericht an der Verletzung eines noch aufrechten Sorgerechtes der Mutter mitwirken, was weder dem "Geiste" der �� 144, 146 b, 176 und 177 Abs.2 ABGB noch jenem des genannten �bereinkommens entspreche.

Rechtssatz:

Der vom Vater gegen den zweitinstanzlichen Beschlu� erhobene ordentliche Revisionsrekurs ist zul�ssig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu den hier anstehenden Fragen �berhaupt fehlt; er ist aber auch berechtigt. Der Vater beruft sich zur Rechtfertigung seiner beim Erstgericht gestellten Antr�ge insbesondere auf das �bereinkommen vom 25. 10. 1980 �ber die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentf�hrung (BGBl. 512/1988) sowie das zu dessen Durchf�hrung ergangene Bundesgesetz vom 9. 6. 1988, BGBl. 513. Gem�� Art. 1 dieses �bereinkommens, zu dessen Vertragsstaaten neben �sterreich u.a. auch die Vereinigten Staaten geh�ren (vgl. Anhang zu BGBl. 512/1988), ist es dessen Ziel, die sofortige R�ckgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zur�ckgehaltener Kinder sicherzustellen und zu gew�hrleisten, da� das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht auf pers�nlichen Verkehr in den anderen Vertragsstaaten tats�chlich beachtet wird. Ob das Verbringen oder Zur�ckhalten eines Kindes im Sinne dieses �bereinkommens als widerrechtlich anzusehen ist, bestimmt dessen Art. 3. Danach gilt ein solches Verhalten dann als widerrechtlich, wenn a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Beh�rde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zur�ckhalten seinen gew�hnlichen Aufenthalt hatte, und b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zur�ckhaltens allein oder gemeinsam tats�chlich ausge�bt wurde oder ausge�bt worden w�re, falls das Verbringen oder Zur�ckhalten nicht stattgefunden h�tte (Abs.1). Das unter Buchstabe a) genannte Recht kann insbesondere kraft Gesetzes, auf Grund einer gerichtlichen oder verwaltungsbeh�rdlichen Entscheidung oder auf Grund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen (Abs.2). Das �bereinkommen wird zufolge seines Art. 4 auf jedes Kind angewendet, das unmittelbar vor einer Verletzung des Sorgerechtes oder des Rechtes auf pers�nlichen Verkehr einen gew�hnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat hatte, wird aber nicht mehr angewendet, sobald das Kind das 16. Lebensjahr vollendet hat. Im Sinne des �bereinkommens umfa�t das Sorgerecht gem�� dessen Art. 5 Buchstabe a) die Sorge f�r die Person des Kindes und inbesondere das Recht, dessen Aufenthalt zu bestimmen. Nach den - allerdings ungepr�ft gebliebenen - Antragsbehauptungen ist das Kind �sterreichischer Staatsb�rger und zugleich Staatsangeh�riger der Vereinigten Staaten, lebte von der Geburt an bis zur Abreise am 16. 1. 1990 ununterbrochen in �sterreich und befand sich in der gemeinsamen Obsorge seiner auch jetzt noch verheirateten Eltern.

Die Vorinstanzen haben die Zul�ssigkeit des vom Vater zur Erwirkung der R�ckgabe des Kindes beantragten Verfahrens im wesentlichen deshalb verneint, weil auch noch die Mutter obsorgeberechtigt sei und sie somit bei der Verbringung ihres Kindes in die Vereinigten Staaten nicht widerrechtlich gehandelt habe.

Dieser Auffassung kann - abgesehen davon, da� die Antr�ge bei Verneinung des widerrechtlichen Verbringens abzuweisen gewesen w�ren, - nicht beigepflichtet werden:

Die Vorinstanzen �bersahen, da� nach Art. 3 des �bereinkommens blo� die Frage, welcher Person das Sorgerecht zusteht, nach dem Recht des Staates zu beurteilen ist, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zur�ckhalten seinen gew�hnlichen Aufenthalt hatte, nicht aber auch die Frage, ob das Verbringen oder Zur�ckhalten in Verletzung dieses Sorgerechtes als widerrechtlich anzusehen ist. Nach dem Erl�uternden Bericht von Eliza P�rez-Vera, die von der von der Haager Konferenz eingesetzten Kommission zu deren Berichterstatterin bestellt worden war (vgl. 485 BlgNR 17. GP, S. 35 ff - im folgenden kurz EB), war es gerade auch ein besonderes Anliegen der Haager Konferenz, das gemeinsam den Eltern zustehende Sorgerecht des einen Elternteils auch noch vor Erlassung einer Sorgerechtentscheidung zu sch�tzen, weil das Kind in den meisten F�llen vom Vater oder von der Mutter verbracht oder zur�ckgehalten wird und jene F�lle "recht h�ufig" sind, in welchen das Kind vor Erlassung einer Entscheidung �ber das Sorgerecht verbracht wird (vgl. EB 37 und 49). Vom Standpunkt des �bereinkommens aus ist das Verbringen eines Kindes durch einen der gemeinsam Sorgeberechtigten ohne die Genehmigung des anderen - unabh�ngig von der nationalen Regelung des Staates, nach dessen Recht zu beurteilen ist, welchen Personen das Sorgerecht zusteht, - gleichfalls widerrechtlich. Die sohin spezifische staatsvertragliche Widerrechtlichkeit ist in diesen F�llen zwar m�glicherweise nicht das Ergebnis einer gesetzwidrigen Handlung (vgl. hiezu etwa RZ 1990/52), sondern des Umstandes, da� dieses Verhalten die durch das Gesetz ebenfalls gesch�tzten Rechte des anderen Elternteils mi�achtet und ihre normale Aus�bung unterbricht (EB 50). Ziel des �bereinkommens ist es nicht, einer Sorgerechtsentscheidung vorzugreifen, sondern als eine "schnelle und in gewissem Umfang vorl�ufige" Ma�nahme (EB 42) zun�chst "einmal die sofortige R�ckgabe des Kindes in die Umwelt zu erreichen, aus der es gerissen wurde" und das in einem der Vertragsstaaten bestehende Sorgerecht "tats�chlich zu beachten" (EB 41).

Daraus folgt f�r den vorliegenden Fall, da� das �bereinkommen dem gemeinsam mit dem anderen Elternteil zustehenden Sorgerecht eines Elternteils auch schon vor einer Sorgerechtsentscheidung des Aufenthaltsstaates seinen Schutz vor Verbringung des Kindes durch den anderen gleichfalls sorgeberechtigten Elternteil in einen anderen Vertragsstaat angedeihen lassen will. Da� dem Elternteil, der das Kind in einen anderen Vertragsstaat verbrachte, dieses Sorgerecht noch gemeinsam mit dem antragstellenden Elternteil zusteht, ist demnach kein Hindernis f�r das Einschreiten der Gerichte im Sinne des genannten �bereinkommens. Zu pr�fen bleibt noch, ob die Frage, wem das Sorgerecht f�r die Minderj�hrige zusteht, nach �sterreichischem oder nach dem Recht eines der Gliedstaaten der Vereinigten Staaten zu beurteilen ist. Art. 3 Abs.1 Buchstabe a) des �bereinkommens verweist zwar auf das Recht des Staates, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gew�hnlichen Aufenthalt hatte (das w�re nach den Antragsbehauptungen das �sterreichische Recht), doch handelt es sich hiebei um eine Gesamtverweisung, die auch die Kollisionsnormen des Aufenthaltsstaates einschlie�t (Erl�uterungen, 485 BlgNR 17. GP, 31; EB 49). Hat sich das Kind, wie unterstellt werden darf, zuletzt gew�hnlich in �sterreich aufgehalten, so ist angesichts des � 24 IPRG das Personalstatut des Kindes daf�r ma�gebend, wem das Sorgerecht zusteht. Da das Kind Mehrstaater ist (�sterreichischer Staatsb�rger und Staatsangeh�riger der Vereinigten Staaten), ist gem�� � 9 Abs.1 IPRG �sterreichisches Sachrecht anzuwenden. An diesem Ergebnis w�rde sich auch nichts �ndern, wenn man diese Regelung mit Schwimann (IPR, 59 f) auf den Bereich des Gesetzes �ber das Internationale Privatrecht beschr�nken wollte, soda� die �sterreichische Staatsb�rgerschaft im staatsvertraglichen Internationalen Privatrecht nicht den Ausschlag g�be: Es kann - sollten sich die Behauptungen des Vaters in seinem Antrag bewahrheiten - keinem Zweifel unterliegen, da� bei dem Kind, das in �sterreich geboren wurde und bis zu seinem Verbringen im J�nner 1990 ausschlie�lich in �sterreich aufgewachsen ist, die st�rkere Beziehung zur �sterreichischen Staatsb�rgerschaft besteht. Kommt demnach �sterreichisches Sachrecht zur Anwendung, so wird im Sinne des Art. 3 Abs.2 des �bereinkommens auch das kraft Gesetzes bestehende Sorgerecht der Eltern eines ehelichen Kindes (� 144 ABGB) - und damit im Sinne der weiter oben angestellten Erw�gungen auch das dem Vater gemeinsam mit der Mutter zustehende Sorgerecht auch schon vor einer Sorgerechtsentscheidung der Beh�rden des Aufenthaltsstaates infolge faktischer Trennung der Eltern - gesch�tzt. Das Erstgericht wird deshalb gem�� den �� 2 und 4 des Bundesgesetzes vom 9. 6. 1988 zur Durchf�hrung des �bereinkommens vom 25. 10. 1980 �ber die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentf�hrung (BGBl. 513) in Bindung an die vorstehend dargelegten Grunds�tze �ber die Antr�ge des Vaters in der Sache selbst abzusprechen haben.


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